Flechten sind Alkoholiker mit hoher Lebenserwartung - Ergebnis einer Liebe von Pilzen mit Algen

Pressemitteilung Nr. 167/08

Datum: 10.11.2008

(Pö) Mit einem reich illustrierten Referat über Flechten im Prozessschutzwald startete die diesjährige populär-wissenschaftliche Vortragsreihe im Waldgeschichtlichen Museum überaus positiv. Der Flechtenexperte Johannes Bradtka verstand es ganz ausgezeichnet, seinen Zuhörern mit einem sehr gut verständlichen Vortrag und teils atemberaubenden Nahaufnahmen die äußerst komplexe Welt der Flechten nahe zu bringen.

Nationalpark-Forscher Dr. Jörg Müller, Organisator der beliebten „St. Oswalder Vorträge“, kündigte in seiner Begrüßung einen Flechten-Fachmann an, der versuchen wird, den Blick des Bürgers auf andere Dinge im Wald zu lenken als den Hirsch. Diesem hohen Anspruch wurde der aus der nördlichen Oberpfalz stammende Förster Johannes Bradtka, wie sich im Laufe des Abends feststellen ließ, voll gerecht.

In seinem kurzweiligen und aufgeweckten Vortrag – die eineinhalb Stunden verflogen im Nu – bezeichnete Bradtka die Flechten als Stiefkinder des Naturschutzes. Viele von ihnen sind unscheinbar und werden von uns kaum beachtet, obwohl wir ihnen täglich begegnen, sei es am heimischen Gartenzaun, auf dem Gehsteig oder beim Spaziergang im Stadtpark und natürlich in Wald und Flur. Überall heften sie sich an, aber nicht schmarotzend, wie die landläufige Meinung ist.

Dass Flechten eine besondere Art von Lebewesen darstellen, beweist schon ihre frühere Zuordnung zu den Moosen durch die Wissenschaftler, obwohl sie bereits seit über 200 Jahren vor unserer Zeitrechnung erstmals beschrieben wurden. Der „Allround-Forscher“ Carl von Linne unterschied Mitte des 18. Jahrhunderts erstmals 80 Flechtenarten und beschrieb sie als die armseligsten Wesen unter den Pflanzen. Eine eher nachdenklich stimmende Renaissance erlebten die Flechten in der Mitte des 20sten Jahrhunderts, als bekannt wurde, dass bestimmte Arten empfindlich auf Luftverschmutzung reagieren und dadurch als sog. Bioindikatoren eingestuft werden können.

Erst seit zehn bis 15 Jahren weiß die Wissenschaft, dass Flechten auch als Zeiger für Biodiversität (Artenvielfalt) gelten. Warum aber befasste sich die Wissenschaft nicht schon früher viel näher mit den Flechten? „Das liegt ganz bestimmt an ihrem komplizierten Aufbau und ihrer höchst seltsamen Entstehung“, war sich Bradtke sicher. „Eine Flechte kann nur entstehen, wenn ein bestimmter Pilz mit einer bestimmten Alge zur rechten Zeit am richtigen Ort eine Verbindung eingeht“. In der Regel sind es Schlauchpilze und Grünalgen, die eine Symbiose eingehen. Das daraus resultierende Ergebnis, die Flechte, hat nichts mehr gemein mit ihren „Eltern“. Es ist ein doppellebiges Wesen entstanden, bei dem die Alge die Aufgabe der Photosynthese, also des Betriebes und des Wachsens übernimmt, während der Pilz für die Abwehr der Fressfeinde verantwortlich ist. „Gerade Letzteres geschieht auf höchst seltsame Weise“, wusste Bradtka zu berichten; denn der Pilz wandelt die Fotosynthese-Produkte in Alkohol um. In den dabei entstehenden, winzigen Kristallen von Flechtensäuren – ca. 800 Arten sind bekannt – sind „Bollwerke“ zu sehen, deren Aufgabe es ist, die schädlichen UV-Strahlen zu absorbieren, Temperaturen zu reduzieren und durch ihre Gift- und Bitterstoffe Fressfeinde fernzuhalten. „Kurzum, Flechten sind Alkoholiker, müssen es sogar sein um zu überleben“, verriet Bradtka in ganz trockenem Ton einem erstaunten und erheiterten Publikum.

„Flechten sind auch Überlebenskünstler“, resümmierte Bradtka. Sie nehmen mit ihrer ganzen Oberfläche Wasserdampf auf und können im Prinzip nicht vertrocknen, weil sie bei Dürre in der Lage sind, ihren Stoffwechsel auf Null zu reduzieren. Sie dürfen als hitzeresistent bezeichnet werden und vertragen nachweislich Temperaturen von minus 200 Grad C, ohne Schaden zu erleiden. „Aber auf Luftschadstoffe“, weiß Bradtka zu berichten, „reagieren viele Arten sehr empfindlich“.

Erstaunen löste bei den Zuhörern die mit bis zu 14 Tonnen je Hektar sehr hohe Biomasse aus, und dass fast zwei Drittel aller Flechten in ihrem Bestand gefährdet sind.
Flechten haben größtenteils keinen deutschen Namen, deshalb wird für Laien eine Unterscheidung auch wohl künftig schwierig sein. Ihre Wuchsformen ermöglichen aber auch für den Nicht-Fachmann eine Unterteilung in Blattflechten, Bartflechten und Krustenflechten. „Bei der Fortpflanzung“, wusste Bradtka zu berichten, „halten sich Flechten ebenfalls an keine generelle Norm. So findet die Vermehrung entweder generativ über Sporen oder viel häufiger vegetativ statt“.

Die Frage, welche Bedeutung Flechten für das Ökosystem besitzt, beantwortete Bradtka ebenfalls. „Sie sind ein Teil der Schöpfung und bilden für viele Tiere, von Schnecken über Raupen bis hin zu den großen Pflanzenfressern, eine z. T. sehr wichtige Nahrungsgrundlage. Vögel verwenden Flechten zum Nistbau, und so manche Säugetierart weiß die isolierende Wirkung von Flechten zu schätzen und polstert damit die Höhle für den Winterschlaf aus“.

Was den Lebensraum anbelangt, sind Flechten als einzelne Art oft sehr spezifisch. Generell bevorzugen sie Wälder, besiedeln aber auch Extremstandorte, wie z. B. die Blockhalde am Lusengipfel. Bradtka betonte aber, dass in der Erforschung von Flechten noch großes Potential bzw. Nachholbedarf bestehe. Er nahm deshalb das Angebot der Nationalparkverwaltung, auf den vier bestehenden Forschungstransekten die Flechten zu kartieren, gerne an und richtete auf diesen über mehrere Kilometer vom Berg zu Tal führenden Forschungsstreifen alle 100 Meter, insgesamt 110 jeweils 200 Quadratmeter große Probeflächen, sog. Plots, ein. Innerhalb eines Jahres konnte Bradtka auf diese Weise 165 Flechtenarten im Nationalpark feststellen, was für mitteleuropäische Bergwälder sehr hoch einzuordnen ist. Die meisten Flechtenarten, nämlich 100 verschiedene, leben in den alten Urwaldrelikten und in den Naturzonen des Nationalparks. Die Managementwälder des Randbereiches besiedeln mit ca. 40 Arten hingegen deutlich weniger.

Mit einer Serie großartiger Nahaufnahmen stellte Bradtka seinem Publikum die Vielfalt und den Formenreichtum unserer heimischen Flechten vor und wie wichtig, ja lebensentscheidend das Vorkommen von Totholz und sehr alter Bäume für sie ist. Viele Flechtenarten besitzen nämlich unglaublich lange Lebenszyklen von mehreren hundert Jahren und sind somit auf alte Prozessschutzwälder, wie es sie im Nationalpark gibt und langfristig nachwachsen, unbedingt angewiesen.

„Auch aus diesem Grunde“, und damit beendete der ausgezeichnete Flechtenfachmann Bradtka seinen spannenden Vortrag, „besitzt der Nationalpark Bayerischer Wald eine herausragende Bedeutung für die Artenvielfalt (Biodiversität) unserer heimischen Flechten“.

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