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Die vier wilden Naturgewalten

Auszug aus Naturschutz-Broschüre: Der Einfluss von Stürmen, Borkenkäfern, Bibern und Kadavern

Eintrag Nr. 36/2023
Datum:


Bergfichtenwald nach natürlicher Störung mit Totholz und Jungwuchs. Foto: Ingo Zahlheimer
Bergfichtenwald nach natürlicher Störung mit Totholz und Jungwuchs. Foto: Ingo Zahlheimer

Waldentwicklung unterhalb des Lusens im Laufe der Jahre.
Waldentwicklung unterhalb des Lusens im Laufe der Jahre.

Ausgewachsener Buchdrucker. Foto: Lukas Haselberger
Ausgewachsener Buchdrucker. Foto: Lukas Haselberger

Nagender Landschaftsgestalter: Der Biber. Foto: Andreas Rückerl
Nagender Landschaftsgestalter: Der Biber. Foto: Andreas Rückerl

Fortgeschrittene Aas-Verwesung im Nationalpark.
Fortgeschrittene Aas-Verwesung im Nationalpark.

Fichten-Zapfen.
Fichten-Zapfen.

Finsterau. Es knackst und zischt am laufenden Band. Von Mal zu Mal werden die Windstöße stärker. Und irgendwann in dieser kühlen Spätsommernacht rattert schließlich der erste Baum zu Boden. Es wird nicht der letzte sein. Später, wenn die Sonne den Wald wieder erhellt, wird das ganze Ausmaß der Veränderung sichtbar. Einer der von Borkenkäfern schon zum Absterben gebrachten Stämme ist auf einem Biberdamm gelandet, so dass der tierische Baumeister wieder zur Reparatur anrücken muss. Einzig und allein die Heerschar an Maden, die sich etwas abseits an einem Hirschkadaver tummelt, zeigt sich gänzlich unbeeindruckt von den Ereignissen der letzten Nacht. Es ist eine simpel klingende Waldszenerie - doch ohne, dass im Anschluss von Menschenhand aufgeräumt wird. Ungestört dürfen all diese natürlichen Prozesse nur in Schutzgebieten ablaufen. Im Nationalpark wird das Motto „Natur Natur sein lassen“ zum größten Pfund des Naturschutzes. Vier Naturgewalten bestimmen die Walddynamik dabei entscheidend mit. Ein Überblick:

1) EINE ECHTE STURMGEWALT

Bäume sind extrem flexibel und schlagen bei Sturm im Kronenbereich ohne Probleme oft meterweit aus. Trotzdem ringt extremer Wind Fichten, Tannen, Buchen und Co. in regelmäßigen Abständen mehr oder weniger großflächig zu Boden. Denn: Stehen die Bäume in exponierten Lagen, sind sie geschwächt oder ist der Wind einfach zu stark, gibt’s kein Halten mehr. Im Nationalpark Bayerischer Wald wurden schon Mitte der 1980er Jahre Windwürfe liegen gelassen, um die natürliche Dynamik gewähren zu lassen. In den 1990er und 2000er Jahren folgten teils massive Sturmereignisse, deren Namen den Menschen in der Region noch heute ein Begriff sind: Kyrill, Wiebke oder Lothar haben im Bayerischen Wald teils weithin sichtbare Spuren hinterlassen. Während das umgeworfene Holz in Wirtschaftswäldern aufgearbeitet wird, darf es in den Naturzonen des Nationalparks im Wald bleiben und so seine Rolle im ewigen Kreislauf von Werden und Vergehen erfüllen. Für die Landschaft heißt das: Sie wird vielfältiger. Lücken entstehen, kleine und große. Im Laufe der Zeit bilden die Lücken verschiedener Jahre ein wildes Mosaik aus Waldentwicklungsstadien. Und in jeder Phase dieser Entwicklung haben andere Arten das Sagen. Die Daten der Nationalpark-Forschung zeigen: Besonders auf den Sukzessionsflächen, also jenen Bereichen, in denen jüngst natürliche Störungen stattfanden, brummt das Leben. Denn auf einmal fällt Licht mit voller Kraft auf den Boden. Gerade für viele Pflanzen und Insekten ist das eine Initialzündung. Pilze wiederum profitieren etwas später, wenn das Kronendach sich wieder schließt.

2) DER HUNGER DER BUCHDRUCKER-KINDER
 
Der zweite Faktor, der die Landschaft im Bayerwald von Grund auf umgestaltet, ist ein tierischer. Dabei ist das nur wenige Millimeter große Insekt zumindest dem äußeren Erscheinungsbild nach weit weniger furchteinflößend als ein ausgewachsener Sturm. Doch der Buchdrucker, eine Borkenkäfer-Art, hat sogar noch ein größeres Potential, Bergfichtenwälder nachhaltig umzugestalten. Eigentlich sind es sogar die Kinder der Insekten, die den Nationalpark zu dem gemacht haben, was er heute ist. Buchdruckerlarven unterbrechen bei ihrem Wachstum unter der Rinde von Fichten deren Nährstofffluss. Ist der Baum in hohem Ausmaß befallen, bringt ihn das zum Absterben. Gibt es Massenvermehrungen der Borkenkäfer, kann das – gerade in den Fichtenwäldern der Hochlagen – großflächige Auswirkungen haben. Wie groß, das konnte man ab Mitte der 1990er Jahre zwischen Lusen und Rachel sehen. Auf den ersten Blick wirkten die Bilder der dortigen Wälder auf Besucher apokalyptisch. Soweit das Auge reicht nur ein Meer an nadellosen, grauen, abgestorbenen Fichten. Dass der Buchdrucker so immens wirken konnte, ist auch historisch bedingt. Die oft gleichaltrigen Wirtschaftswälder von einst kamen nach über 20 Jahren nutzungsfreier Zeit in ein reifes Alter. Der Buchdrucker stand quasi vor einem nicht enden wollenden All-inclusive-Buffet. Doch wie bei Stürmen ist auch hier das Ende gleichzeitig der Anfang: Auf den von Buchdruckern geschaffenen Flächen wuchs in kürzester Zeit ein dynamischer Naturwald nach – auch, weil mit dem Totholz genügend Nährstoffe auf der Fläche verblieben. Und mit dem Totholz kommen plötzlich auch andere Arten zurück, schließlich ist gut ein Drittel aller im Wald existierenden Lebewesen auf diese Ressource angewiesen. Bestes Beispiel dafür ist der Urwaldreliktkäfer Peltis grossa, der 2019 nach über 100 Jahren seiner Abwesenheit wieder im Nationalpark nachgewiesen werden konnte. Ohne hohe Mengen an Totholz hat nicht nur dieses Insekt keine Chance, überleben zu können.

3) TEICHBAU MADE BY FAMILIE BIBER

Ein weiterer maßgeblicher tierischer Landschaftsgestalter ist weitaus größer als der Buchdrucker. Und er kann in weitaus geringerer Anzahl vorhanden sein, um bleibenden Eindruck zu hinterlassen. Die Rede ist vom Biber. Wie überall in Bayern wurde er einst auch im heutigen Nationalparkgebiet ausgerottet. Erst nach Wiederansiedlungsprojekten anderswo im Freistaat konnte sich das größte mitteleuropäische Nagetier peu à peu wieder in Richtung Bayerischer Wald ausbreiten. Heute ist er aus der Landschaft nicht mehr wegzudenken. Nicht nur das, er ist auch noch als bestens geschulter Wildnis-Architekt tätig. Wo der Nationalpark mühsam versucht, Gewässer zu renaturieren oder feuchte Flächen zu schaffen, hat der Biber von ganz allein beste Arbeit geleistet. Innerhalb weniger Jahre haben die Tiere entlang der Fließgewässer im Schutzgebiet vielfältigste Teichgebiete geschaffen, die sich von Jahr zu Jahr dynamisch weiterentwickeln. Diese Areale sind die ideale Ergänzung der wilden Waldlebensräume hinsichtlich der Habitat-Diversität. Nur dank ihnen konnte etwa 2020 die Bekassine als Brutvogel zurückkehren. Und auch für Arten wie den Kranich oder den Waldwasserläufer ist die Heimat der Biber unverzichtbar.

4) INSEKTENPARTY AM KADAVER

Die vierte Naturgewalt fällt etwas aus der Reihe. Sie ist nicht landschaftsgestaltend. Sie ist ressourcenbringend. Wie totes Holz werden in Wirtschaftswäldern auch tote Tiere aus dem Wald gebracht. Der Prozess der Verwesung verschwindet aus der Landschaft. Anders im Nationalpark: Hier darf neben totem Holz auch totes tierisches Material im Wald bleiben. Denn auch die Ressource Aas ist für tausende Arten unverzichtbar. Jeder einzelne Hirsch-, Wildschwein- oder Rehkadaver ist ein wahrer Hotspot der biologischen Vielfalt. Profiteure sind nicht nur Bakterien, Pilze und große Beutegreifer – sondern vor allem Insekten. Tierkadaver stellen nämlich die nährstoffreichste Form toter organischer Materie dar. So entspricht ein verwesender Hirschkadaver auf kleiner Fläche ungefähr demselben Ressourcenwert wie eine 100-jährige Düngung. Nicht verwunderlich, dass sich binnen kürzester Zeit Abertausende von kleinen Lebewesen um jedes Stückchen Aas reißen. Und ähnlich wie beim Totholz gibt’s auch beim Kadaver insbesondere Käferarten, die sich ganz gezielt auf dieses Umfeld spezialisiert haben. So wird der Nationalpark zu einem der letzten Rückzugsräume, in dem auf Aas angewiesene Arten auf großer Fläche geeignete Lebensräume finden.

Gewinner

Klingt komisch, ist aber so: In den Hochlagen ist die FICHTE der größte Profiteur der Walderneuerung. Auch wenn Stürme und Buchdrucker hoch oben am Grenzkamm Millionen Fichten zum Absterben gebracht haben: Die Naturereignisse sind auch Grund dafür, dass sich die Fichte hier in unermesslichem Umfang von selbst verjüngen kann.

Vor Ort erleben

Einer der eindrucksvollsten neuen Wildnis-Bereiche lässt sich rund um die Reschbachklause bei Finsterau erleben. Direkt unter der Triftschwelle hat der Biber eine schon fast kanadisch anmutende Tümpel-Landschaft geschaffen. Und an den Hängen rund um den Lauf des Reschbachs zeigt sich die volle Wucht der Walddynamik, die Windwurf und Borkenkäfer entfalten können. Steigt Aasgeruch auf, dürfte es ein Beutetier von Wolf oder Luchs sein.

 

Hinweis: Dieser Text stammt aus der im Juli 2023 erschienenen Broschüre "Naturschutz im Nationalpark". Die komplette Publikation kann auf der Nationalpark-Homepage als ePaper gelesen werden.

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